05.12.2018  Handball Weltmeisterschaft

"Ich habe mittlerweile alles erlebt, was man im Handball erleben kann"

Der Countdown läuft: Vom 10. bis zum 27. Januar 2019 kämpft die deutsche Handball-Nationalmannschaft erneut um den Weltmeistertitel. Als offizieller WM-Botschafter wirft Stefan Kretzschmar einen Blick auf die Entwicklung des Handballsports, die Heim-WM und die Chancen der "Bad Boys". Weitere unterhaltsame Anekdoten aus seiner aktiven Laufbahn hat "Kretzsche" in seinem neuen Buch "Hölleluja! - Warum Handball der absolute Wahnsinn ist" festgehalten.

Vom 10. bis 27. Januar findet die Handball-WM in Deutschland und Dänemark statt. Was glauben Sie, wie werden die „Bad Boys“ rund um Trainer Christian Prokop bei der Heim-WM abschneiden?

Stefan Kretzschmar: Um ganz ehrlich zu sein, glaube ich an eine Medaille. Also das Ziel sollte sein, das Halbfinale in Hamburg zu erreichen. Die einzige Übermannschaft ist wahrscheinlich Frankreich, aber es gibt viele weitere gute Nationen, die für die Medaillen in Frage kommen. Norwegen, Kroatien, Spanien, Dänemark, Schweden, Slowenien … das sind alles Medaillenaspiranten.

Sie haben vor über zehn Jahren Ihre aktive Karriere beendet und verfolgen die Spiele aktuell als Experte und Kommentator vom Spielfeldrand aus. Hand aufs Herz: Wie oft juckt es noch in den Fingern, sich den Ball zu schnappen und aufs Feld zu laufen?

Stefan Kretzschmar: Überhaupt nicht mehr. Ich liebe diesen Sport über alles, aber ich habe alle Spiele gespielt, die man in diesem Sport spielen kann. Ich hörte auf, weil mir mit 34 Jahren der Antrieb fehlte, der unbedingte Siegeswillen. Es gab nichts mehr, was ich beweisen oder erreichen wollte. Hinterher hatte ich nie wieder Sehnsucht danach, nochmal auf das Feld zurückzukehren. Egal ob im Bogenschießen, Handball oder Synchronschwimmen.

In Ihrem Buch „Hölleluja!“ beschreiben Sie mit viel Expertise und Leidenschaft die Einzigartigkeit des härtesten Hallen-Mannschaftssports und gewähren einen einmaligen Blick hinter die Kulissen Ihrer Weltkarriere. Wie kam es zur Buchidee und zum Entschluss, die Kapitel analog zu einem Handballspiel zu gliedern?

Stefan Kretzschmar: Ich wollte einfach anhand meiner Person die Faszination Handball beschreiben. Warum das der tollste Sport der Welt ist. Außerdem habe ich in meinem 45-jährigen Leben nun mittlerweile alles erlebt, was man im Handball erleben kann. Ich hatte so ziemlich jede Position inne. Von diesem Blickwinkel aus wollte ich ein allumfassendes Buch schreiben. Die Idee der Gliederung hatte Nils Weber, der Co-Autor des Buches. Sie hat mir von Anfang an gefallen und war nicht der einzige Aspekt, bei dem wir auf einer gemeinsamen Welle schwimmen.

Was bedeutet der Begriff "Hölleluja" für Sie? Was genau hat es mit der "Handballhölle" auf sich?

Stefan Kretzschmar: "Hölleluja" ist ein Synonym für Himmel & „Hölle“. Die schönste Sportart der Welt wird mit einer gewissen Härte gespielt und in manchen Hallen brennt buchstäblich die Luft. Man ignoriert oft Schmerzen und steckt einiges ein. Trotzdem ist es ein wundervoller, athletischer Sport, mit etlichen Highlights und spektakulären Aktionen.

Der Untertitel lautet: "Warum Handball der absolute Wahnsinn ist". Worin liegt für Sie persönlich die Faszination Handball?

Stefan Kretzschmar: Als erstes: Handball ist ein Mannschaftssport und obwohl es manchmal nicht so aussah in meiner Karriere, bin ich ein absoluter Mannschaftsspieler. Mein Lebensmotto ist nicht umsonst: „Lieber ein kleiner Teil von etwas Großem, als ein großer Teil von einem Haufen Scheiße“! Handball kombiniert alles, was mich fasziniert: Das Spiel mit dem Ball. Körperliche Härte. Unglaubliche Athletik. Du solltest technisch versiert sein und musst den peripheren Blick haben. Jederzeit das ganze Spielfeld unter Kontrolle haben. Taktische Meisterleistungen einer ganzen Mannschaft sind genauso ausschlaggebend über Sieg und Niederlage, wie gewonnene Zweikämpfe, oder das gewonnene Duell gegen den gegnerischen Torwart. Das alles ist Handball. Sensationell.

1993 debütierten Sie in der deutschen Nationalmannschaft, weshalb "Hölleluja!" auch eine spannende Zeitreise durch 25 Jahre Handballgeschichte ist. Welche sind Ihrer Meinung nach die gravierendsten Unterschiede im Sport von einst und heute?

Stefan Kretzschmar: Eindeutig das Tempo des Spiels. Es ist immer schneller geworden. Vor allem nach der Einführung der "schnellen Mitte". Das war ein Meilenstein, der das Spiel sehr verändert hat. Dies hatte zur Folge, dass die reinen Abwehrspezialisten langsam ausstarben, obwohl es einige von ihnen heute noch gibt. Desweiteren haben sich die Wurfvarianten der Spieler extrem erhöht. Ein sehr guter Spieler braucht mittlerweile mehr als nur zwei, drei Wurfvarianten.

Handball gewinnt in Deutschland zunehmend an Beliebtheit, steht aber oft nach wie vor im Schatten von „König Fußball“. Wie könnte man den Handballsport hierzulande noch populärer machen?

Stefan Kretzschmar: Ein deutscher Superstar würde unserer Sportart guttun. Wir brauchen mehr Kreativität, Mut und Budget für Marketing. Da ist der Handball oft noch zu kleinkariert und kurzfristig denkend unterwegs. Wir brauchen Visionäre und Vordenker. Aber ganz ehrlich: Wir sind nicht unzufrieden. Wir haben die stärkste Liga der Welt, wirtschaften überwiegend seriös, haben ein funktionierendes Nachwuchssystem und großartige Fans. Ein grafisch hochwertiges Handballspiel für die Playstation würde uns bei der jüngeren Zielgruppe sehr helfen. Das müssen wir forcieren und selbst Geld investieren.

Mit Ihrem extravaganten Äußeren, Ihren unverblümten Statements und einem turbulenten Privatleben galten Sie in den 90er- und 2000er-Jahren als "Enfant terrible" des Sports. Wie bewerten Sie rückwirkend Ihre Eskapaden? Und bedarf es solcher Charakterköpfe um eine Randsportart wie Handball stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken?

Stefan Kretzschmar: Peinlich. Vieles von dem was ich damals war und von mir gab, empfinde ich heute rückblickend als extrem peinlich. Aber zu dieser Zeit traf es offensichtlich den Puls der Zeit und viele fanden es cool. Ich übrigens damals auch ;-) Solche „Charakterköpfe“ könnte es im Social-Media-Zeitalter gar nicht mehr geben. Alles wird dokumentiert, überall lauert eine Handykamera. Unsere damalige Freiheit wäre heute nicht mehr lebbar. Das ist schade, aber es ist so. Die Öffentlichkeit spielt dabei eine äußerst heuchlerische Rolle. Sie fordert Typen, sagt aber einer einmal die Wahrheit oder etwas Polarisierenendes, wird er in der Luft zerrissen. Ein Mario Basler würde heute keine zwei Wochen im Profisport überleben.

Als Sohn zweier Handballlegenden wurde Ihnen der Sport quasi in die Wiege gelegt – Ihr gesamtes Leben ist vom Handball geprägt. Welches Erlebnis Ihrer beispiellosen Karriere ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Stefan Kretzschmar: Sydney 2000. Olympische Spiele. Viertelfinale - siehe Buch ;-)

Ihre Tochter Lucie-Marie bleibt der Familientradition treu und spielt ebenfalls Handball. Was würden Sie jungen Spielerinnen und Spielern von heute raten, die im Sport erfolgreich sein möchten?

Stefan Kretzschmar: Heutzutage gilt leider das Motto, mit möglichst wenig Aufwand, so erfolgreich wie möglich zu sein. Alle wollen nur noch „kreativ“ sein, oder Influencer. Harte Arbeit möchte heute kaum noch einer leisten und erfährt auch nicht mehr denselben Respekt wie vor 20 Jahren. Wenn man in meinem Sport erfolgreich sein will, muss man viel opfern, viel investieren und verdammt hart arbeiten. Man muss sich große Ziele setzen, wenn man ganz oben ankommen will. Man muss es sich vorstellen können. Davon träumen können. Man muss Hierarchien anerkennen, sich unterordnen am Anfang der Karriere und bereit sein die Führung zu übernehmen, wenn die Zeit reif ist.

In Ihrem Buch schreiben Sie: "Es gibt keinen Morgen, an dem ich nicht mit Rückenschmerzen aufwache". Inwieweit hat der Leistungssport seinen Tribut gefordert und würden Sie auch aus heutiger Sicht nochmal mit einer Bandscheibenverletzung auflaufen, wie Sie es 2001 beim Champions-League-Spiel in Skopje getan haben?

Stefan Kretzschmar: Ich würde alles wieder so tun, auch wenn ich die Konsequenzen damals schon gekannt hätte. Und … es ist ja nicht so, als hätte ich das damals nicht gewusst.

Was wünschen Sie sich für Ihre persönliche und die Zukunft des deutschen Handballsports?

Stefan Kretzschmar: Persönlich bin ich sehr zufrieden und frei von imaginären, lebensverändernden Wünschen. Ich liebe mein Leben, so wie es ist und wünsche mir Gesundheit und ein sorgenfreies Leben für alle, die mir am Herzen liegen. Für den Handball wünsche ich mir eine kontinuierliche Weiterentwicklung und die Stärkung der Position 2 der Mannschaftssportarten hinter "König Fußball". Und natürlich eine erfolgreiche Handball WM 2019 in Deutschland.

Quelle & Online-Shop: Edel Books

Foto: Klahn